Start 5 Digital 5 Rückschau: Philosophierlust-Online

Nachdenken über jüdisches Leben in Deutschland

Am 28. Oktober 2021 sprachen der Publizist Michael Girke und der Vorsteher der jüdischen Gemeinde Herford-Lippe Matitjahu Kellig über jüdisches Leben in Deutschland jetzt und in der Vergangenheit. Da Kellig hauptberuflich Musiker ist, nahm in dem zweistündigen Gespräch die Rolle der Musik für das Zusammenleben eine wichtige Rolle ein. Welch elementare Bedeutung Musik aber auch Literatur für die Gestaltung eines reflektierten und aktiv teilnehmenden Lebens in der Gesellschaft spielen kann, legte der Künstler im Gespräch dar und unterstrich seine Ausführungen mit seinem Spiel am Flügel. Auch schilderte Kellig seine Erfahrungen mit Antisemitismus und wie er diesem begegnet.  Die Entwicklung der jüdischen Gemeinde Herford-Lippe in den letzten Jahrzehnten beschrieb er anschaulich und er formulierte seine Vorstellungen für deren Zukunft.

Die Veranstaltung fand in Kooperation mit der VHS und der Gedenkstätte Zellentrakt statt.

26. August 2021: Nachdenken über Natur

Welches Verhältnis hat die Philosophie zu dem, was man Natur nennt? Unter dieser Fragestellung referierte Michael Girke über philosophische Betrachtungen des Naturbegriffs von der Antike bis in die Gegenwart.

Nachberichterstattung von Helge Nils Sachau

Bis in das 20. Jahrhundert hinein waren Begriffe wie Natur und Heimat in akademischen Kreisen eher verpönt. Sie wurden mit Vitalismus assoziiert. Die Vorstellung, dass als Grundlage alles Lebendigen eine spezielle Lebenskraft anzunehmen ist, stieß auf Ablehnung. Um die Prägung der Umwelt durch den Menschen stärker zu betonen, sprach man ab der Mitte des 20. Jahrhunderts eher von Kultur und Landschaft. Nachdem in den 1980er Jahren sogar das Ende der Natur beschworen wurde, setzte danach ein partieller Gesinnungswandel ein. In der Tradition des angelsächsischen „Nature Writing“ wird die rein naturwissenschaftliche Betrachtung durch die Schilderung menschlicher Erfahrung und Anschauung ersetzt.

In einer historischen Rückschau markierte der Dozent in Europa eine Zeitenwende vom 15. – 17. Jahrhundert im Verhältnis des Menschen zur Natur. In der Zeit davor war die Welt organisch bestimmt und von den Erträgen der bäuerlichen Urproduktion in starkem Maße abhängig. Insofern betrachtete der Mensch des Mittelalters die Natur als nahrungsspendende Mutter, die auch durchaus übellaunig sein konnte, wenn Stürme und andere Katastrophen das Leben bedrohten.

Ein Dualismus zwischen feminin und passiv konnotierter Erde bzw. Materie und einem als maskulin und aktiv gesehenen Geist oder Verstand kann schon bei den antiken Philosophen Platon und Aristoteles unterstellt werden. Obwohl die Frau in diesem Denkmuster als unvollständiger Mann angesehen wurde, kam ihr doch ein gewisser Schutzstatus zu. Daraus abgeleitet wurde von Seneca Kritik am Bergbau geäußert, der darin eine Schändung der weiblichen Erde gesehen hat. Diese Ansicht hielt sich lange und bewirkte bei einigen eine Handlungshemmung, die eine zerstörerische Ausbeutung der Erde, wie sie der Bergbau mit sich brachte, verhindern sollte. Noch Mitte des 16. Jahrhunderts sah sich Georg Agricola in seinem Werk „De Re Metallica“ genötigt, die bergmännische Rohstoffgewinnung zu rechtfertigten.

Michael Girke spannte danach einen neuzeitlichen Bogen der philosophischen Ansichten, der, beginnend bei René Descartes dualistischer Auffassung einer Trennung von Materie und Geist, über Isaac Newtons Entdeckung der Gravitationsgesetze, bis zu Gottfried Wilhelm Leibniz Überlegungen zur Rolle Gottes in dem sich zunehmend durchsetzenden mechanistischen Weltbild, führte.

Die Philosophie der Gegenwart hadert mit der etablierten Sicht auf die Natur als einem äußeren Objekt, von dem der Mensch, zumindest nach klassisch europäischer Auffassung, kein Teil ist. Der Publizist Hans Jonas beispielsweise propagiert eine Verantwortungsethik, die die Bewahrung der natürlichen Lebensgrundlagen für zukünftige Generationen zum Prinzip erhebt.

Der Gesprächsgast Julie Mettenbrink, eine Herforder Fridays for Future Aktivistin, äußerte sich zunächst über ihre persönliche, schon seit Kindertagen bestehende Liebe zur Natur, die insbesondere durch das eigene Naturerlebnis geprägt wurde.

Das internationale Ziel, die globale Erderwärmung auf einen Anstieg um höchstens 1,5 Grad zu begrenzen, wird von Fridays for Future unterstützt. Allerdings zeigte sich die Aktivistin skeptisch bezüglich einer erfolgreichen Realisierung und machte deutlich, dass jedes zusätzliche Zehntelgrad Erwärmung die Vernichtung weiterer Lebensformen der Fauna und Flora bedeuten wird. Zum Ende des Interviews gewährte Frau Mettenbrink einen Einblick in ihre Gefühlslage angesichts der sich abzeichnenden Entwicklung. „Es wird nicht schön werden“ waren ihre ernüchternden Schlussworte.

Literaturhinweise:

RALPH WALDO EMERSON – „Natur“ (Reclam-Verlag)

BRUNO LATOUR – „Das terrestrische Manifest“ (Suhrkamp Verlag)

ALDO LEOPOLD – „Ein Jahr im Sand County“ (Matthes & Seitz)

NASTASSJA MARTIN – „An das Wilde glauben“ (Matthes & Seitz)

NATHALIE MERCHANT – „Der Tod der Natur“ (C.H. Beck)

CHRISTOPH TÜRCKE – „Natur und Gender“ (Beck Verlag)

 

Die Villa Schönfeld im Frühling Foto: Museum

24. Juni 2021: Hesses Werk philosophisch grundiert

Michael Girke stellt in seinem Bericht einleuchtend dar, dass es durchaus vertretbar ist, in der philosophischen Reihe im städtischen Museum einen Schriftsteller statt eines Philosophen zu behandeln.

Das Werk des Schriftstellers Hermann Hesse, so Girke, ist philosophisch grundiert, durch Philosophen stark beeinflusst, vor allem durch Nietzsche und Schopenhauer, aber auch vom Historiker Jakob Burckhardt.

Girke stützt seine Aussage durch die Beschreibung von Hesses Lebensweg, um sie dann durch die Herausarbeitung der geistigen Substanz einzelner Werke zu bekräftigen.

In Girkes biografischem Abriss lag ein großer Schwerpunkt auf Hesses Aufenthalt auf dem Monte Verità (Berg der Wahrheit). Das lebensreformerische Projekt, das von dem belgischen Industriellen Henri Oedenkoven und Ida Hofmann zusammen mit anderen im Jahr 1900 in der Nähe von Ascona gegründet wurde, zog Hesse ungemein an. Der Monte Verità war Treffpunkt von alternativ bewegten Menschen wie VegetarierInnen, Astrologen, TanzreformerInnen, Buddhisten sowie AnhängerInnen der Theosophie und Anthroposophie und auch vielen KünstlerInnen. Die Reise zum Berg der Wahrheit gab Hesse die Möglichkeit, 1910 aus seinem von ihm als Belastung und Gefängnis empfundenen Familienleben auszubrechen. Vor allem aber teilte er mit den dort lebenden Sinnsuchenden die Ablehnung der industriellen kapitalistischen Lebensweise. Die Hippies in den USA, deren Verehrung für Hesses Werke – insbesondere „Demian“, „Steppenwolf“ und „Siddhartha“ – Ausschnitte einer zu Beginn des Abends gezeigten Dokumentation vor Augen führten, waren also nicht die ersten Kritiker und alternativen Sinnsuchenden in der kapitalistischen Industriegesellschaft.

Hesses Lebensweg wurde von Girke aber nicht nur als Ablehnung der industriellen Lebensweise und der gängigen bürgerlichen Wertvorstellungen nachgezeichnet, sondern auch als Abnabelung vom pietistisch geprägten Elternhaus. Dies allerdings nicht ohne darzulegen, wie stark Hesses Gott- und Sinnsuche durch die über Jahrhunderte gewachsene Kultur des protestantischen Pfarrhauses beeinflusst blieb. Diese war nicht nur Hort der Frömmigkeit und Sittlichkeit, sondern wies auch den Weg zum freien Denken, zur Ausgestaltung eines selbstbestimmten Verhältnisses zu Gott.

Auch wenn Hesse sich mehr der Welt des Mythos als der Welt des Logos zugehörig beschreibt, liest er philosophische Werke und sein Schreiben ist philosophisch grundiert, und das nicht nur inhaltlich. Auch die Ausdrucksweise lässt den Einfluss von Philosophen erkennen. In dem frühen erfolgreichen Werk „Peter Camenzind“, in dem Hesse der Frage nachgeht, wo in der modernen Welt noch ursprüngliches Leben möglich ist, hört man den Tonfall Nietzsches aus „Also sprach Zarathustra“ heraus.
In „Demian“ arbeitet Hesse heraus, dass jeder sich seinen eigenen Gott suchen muss. In „Siddharta“ verbindet er sein protestantisches Erbe mit fernöstlicher Philosophie. Wobei auch dieser Weg beeinflusst ist durch das Elternhaus. Sein Vater beschäftigte sich seit seiner Zeit als Missionar in Indien mit dem chinesischen Philosophen Laotse, was Hesse den Weg zu fernöstlichen Autoren wies.

Im abschließenden Fazit betonte Girke, dass es verfehlt wäre, Hesse aufgrund seiner Suche nach einem natürlichen Leben und seinem Studium fernöstlicher Lehren in eine esoterische Ecke zu stellen. Vielmehr habe er durch die treffliche Beschreibung und tiefe Ausleuchtung der spirituellen und emotionalen Lebensnöte der Menschen große Kunst geschaffen.

Literaturhinweise

Ralph Freedman: Hermann Hesse, Frankfurt a.M. 1999

Alois Prinz: „Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne“. Die Lebensgeschichte des Hermann Hesse, Weinheim und Basel 2000

Gunnar Decker: Hesse. Der Wanderer und seine Schatten, München 2012

Hermann Hesse 1927 Photo: Gret Widmann (Wikipedia)

Ernst Würtenberger: Bildnis Hermann Hesse. Brustbild Sammlung Hermann-Hesse-Haus Gaienhofen (Wikipedia)

20.Mai 2021: Rechtes Denken hat eine lange Tradition

Die Aktualität des Themas sei zweifellos, so Girke gleich zu Beginn, dadurch gegeben, dass eine rechte Partei in Landesparlamenten und im Bundestag sitzt, Antisemitismus zunimmt, antiisraelische Demonstrationen angesichts der militärischen Auseinandersetzung in Gaza stattfinden. Dies seien die Ereignisse und Entwicklungen, die die aktuellen politischen Diskurse bestimmen. Er wolle aber mit seinem Vortrag zeigen, dass rechtes Denken schon 200, wenn nicht gar 250 Jahre aktuell ist.

In der Folge breitete Girke eine Fülle von Material vor den Zuhörenden aus, das die Wurzeln dieses Denkens enthüllte, seine antiaufklärerische, antiliberale und antidemokratische Stoßrichtung verdeutlichten und seine Bedeutung für die Durchsetzung des Nationalsozialismus darlegten.

Der immer noch vielfach vorhandenen Vorstellung, dass die Nazis nur dumpfe geistlose Zeitgenossen gewesen wären, die mit Philosophie nichts anzufangen wüssten, begegnete Girke mit dem Verweis auf die Forschungsergebnisse von Bettina Stagneth. Diese konnte auf der Basis neuer Quellen Hannah Arendts Interpretation Eichmanns als geistlosem Bürokraten, der sich, am Schreibtisch sitzend, über die Konsequenzen keine Rechenschaft ablegte („Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen“), widerlegen. Eichmann, legte Stagneth in ihrem Buch „Eichmann vor Jerusalem“ dar, war glühender Antisemit, kein simpler Befehlsempfänger, und er rechtfertigte sein Handeln mit einem philosophischen Werk.

Im Prozess dagegen, das zeigte ein kurzer Filmausschnitt, stellte Eichmann sich als Befehlsempfänger dar, der im Einklang mit geltendem Recht gehandelt habe. Die Verantwortung läge bei denen, die die Anordnungen trafen, nicht bei ihm als Befehlsempfänger.

Mit Bezug auf Fritz Bauer, der maßgeblich an der Entdeckung und Verhaftung Eichmanns beteiligt war, analysierte Girke die Wurzeln juristischer Vorstellungen im Nationalsozialismus. In der Gegenüberstellung römischer und germanischer Rechtstraditionen identifizierte Bauer im zentralistisch und caesarisch ausgerichteten römischen Recht eine Wurzel des Denkens, die es Staatsrechtlern wie Carl Schmitt erlaubte, die Gewalt der politischen Führung gegenüber Andersdenkenden und einzelnen Bevölkerungsgruppen zu legitimieren. Eine andere Wurzel war die Auffassung, dass das Leben Kampf sei und der Stärkere Recht nach seinen Vorstellungen setzen könne. Ernst Fraenkel legte in seinem Buch „Der Doppelstaat“ dar, dass Maßnahmen, die die nationalsozialistischen Machthaber im sogenannten Daseinskampf ergriffen, keiner Norm unterlagen, sondern allein dem Zweck dienten, die Macht zu erhalten. Daneben galten, um das alltägliche wirtschaftliche und private Leben aufrecht zu erhalten, vertraute Rechtsvorschriften weiter. Bauer begründete das Recht auf und die Pflicht zum Widerstand gegen die hierin zum Ausdruck kommende Willkür aus germanischen Rechtstraditionen.

Dafür, dass auch Philosophen und andere Kulturschaffende rechtem Denken und dem nationalsozialistischen Staat Sympathien entgegenbringen und zu seiner Unterstützung aufrufen konnten, stand das Beispiel Martin Heidegger. Enttäuscht von der Staatsführung zog dieser sich zwar bald von seinen Ämtern weitgehend zurück, seine inzwischen veröffentlichten Notizbücher beweisen allerdings seinen fortbestehenden vehementen Antisemitismus. Eine Distanzierung von seiner zumindest zeitweisen aktiven Unterstützung des nationalsozialistischen Staates hielt Heidegger für nicht geboten. Ethische Betrachtungen hatten für ihn und auch für andere Denker in der Philosophie keinen Platz, denn alles Werten sei schließlich nur subjektive Einschätzung und habe mit dem objektiven Sein, dem Gegenstand der Philosophie, nichts zu tun.

Zum Abschluss führte Girke mit Bezug auf Fritz Sterns Buch „Kulturpessimismus als politische Gefahr“ aus, dass das zuvor dargestellte antidemokratische, antisemitische und nationalistische Denken eine in ganz Europa festzustellende kritische Reaktion auf die im 19. Jahrhundert entstandene bürgerliche Gesellschaft und den Industriekapitalismus ist. Die in Teilen durchaus berechtigte Kritik an Materialismus, Naturzerstörung, Entfremdung von der Natur und Auflösung traditioneller Wertvorstellungen führten zu einem hoch emotionalen und durch irrationale Züge gekennzeichneten Kulturpessimismus, der nur Zerfall statt Wandel wahrnahm. Er gipfelte in einer konservativen Revolution, die ihr Heil gegen Aufklärung und Liberalismus in der Rückkehr zu früheren, vermeintlich besseren Verhältnissen suchte. Sie witterten hinter der Entwicklung eine einzige große Verschwörung. Böse Mächte hätten, so die konservativen Revolutionäre, die Einheit des Volks zerstört. Als böse Mächte benannten sie die Juden; diese verkörperten in ihren Augen die Moderne.

Girke endet mit der Frage, ob das gegen die Moderne gerichtete irrationale Denken mit der heutigen Kritik an der westlichen Welt und seinen Werten vergleichbar sei und wie rechtem Denken zu begegnen sei.

Adolf Eichman (Bild: Wikipedia)

15. April 2021: Heldengeschichten sind Ursprungs- und Zivilisationsgeschichten

Das Thema „Heldenfaszination“, das der Publizist Michael Girke für die Philosophier-Lust online gewählt hatte, mag für eine Philosophie-Veranstaltung auf den ersten Blick verblüffen. Sind doch Helden im heutigen Verständnis in der populären Kultur angesiedelt und dort vor allem in Filmen oder in dem nicht sonderlich hoch angesehenen Genre Comic. In der Antike allerdings, so Girke, waren Helden Figuren aus der Religion und der Kunst. Damals nannte man sie Heroen.

Dramatiker wir Euripides oder Aischylos schrieben Stücke über Heroen, die bis heute auf der Bühne aufgeführt werden. Sie handeln von der göttlichen Ordnung, sind voller Tragik und großer Gefühle. Antike Philosophen kritisierten diese mythischen Dichtungen. Die in ihnen enthaltenen Weltdeutungen beruhten für sie auf falschen Annahmen und stellten damit Täuschungen dar. Die Philosophen wollten das von Göttern und heroischen Halbgöttern bevölkerte Weltbild durch ein vernunftgeleitetes ersetzen. Der Mythos sollte durch den Logos überwunden werden. Der Widerstreit zwischen diesen beiden Weisen, die Welt zu erklären, durchzieht die gesamte Kulturgeschichte. Dies macht das Thema Helden für eine Philosophieveranstaltung interessant.

Girke extrahierte aus diversen Definitionen die Merkmale von Helden. Da sind ihre enormen, das Vermögen normaler Menschen übersteigenden Handlungsmöglichkeiten und ihre übermenschlichen Taten, die über Generationen und Jahrhunderte hinweg erzählt werden. Zuweilen zeugen die Erzählungen auch von einer übersteigerten, übertriebenen Verehrung, einer Vergötterung. Am Beispiel Homers (Ilias, Odyssee) und unter Berufung auf Karl Kerényi erläuterte Girke, wo die Wurzeln der Heldengeschichten liegen und was ihre Inhalte ausmacht. Es sind Gründungsmythen, die erklären, wie die Welt entstand, wie und warum alles so geworden ist und woher wir kommen. Zugleich sind sie Zivilisationsgeschichten, erzählen, wie die Menschen die Natur zähmten, sie sich untertan machten.

Die zentrale Frage, der Girke nachging war, warum Helden von je her bis heute so faszinieren. Ihre übermenschliche Stärke, ihr Mut begeistern, ihre Menschlichkeit, die sich in Leiden, Fehlbarkeit oder auch Scheitern zeigt, ermöglicht es, sich ihnen nah zu fühlen. Die Ambivalenz nicht nur gut, sondern auch schlecht oder böse sein zu können, besitzen sowohl die antiken wie auch modernen Helden. Diese in allen Kulturen und über alle Zeiten hinweg gültige Grundstruktur des Helden hat Joseph Campbell in seinem Buch Der Heros in tausend Gestalten herausgearbeitet. Die Schöpfer der ungemein populären Heldenfiguren wie Spiderman und Batman übernahmen Campbells Heldencharakterisierung und damit einen seit jeher erfolgreichen Archetyp.

Zum Schluss ging Girke noch auf die politische Instrumentalisierung von Helden wie Hermann und Widukind im 19. Jahrhundert ein. Museumsleiterin Sonja Langkafel legte dar wie diese Indienstnahme für die Nation und das Herrscherhaus durch die Errichtung des Herforder Widukind-Denkmals 1899 funktionierte. Anhand von Zitaten aus den Einweihungsreden von Bürgermeister und Landrat beschrieb sie, wie der Bevölkerung Stolz auf das Vaterland eingepflanzt und sie auf unbedingte Treue gegenüber dem Kaiserhaus eingeschworen wurde.

Die Frage nach den persönlichen Helden der Teilnehmenden leitete die Diskussion ein. Von Frodo über Morrissey, Jesus, Fußballhelden von 1954, Fabian Klos und Gorbatschow bis zu Astronauten reichten die Nennungen. Sie verkörperten für die Teilnehmenden positive Werte und Leistungen, die sie teilen oder bewundern. Die Verhörszene aus The Dark Knight, in der Batman Joker brutal schlägt, disqualifiziere Batman als Helden, fanden die Teilnehmenden.

Um 1900: Kinder vor dem Wittekind-Denkmal

1959: Einweihung des neuen Wittekind-Denkmals, das Wolfgang Kruse nach dem Vorbild des alten Denkmals entwarf

4. März 2021: „DIE RENAISSANCE – Hochzeit der Kultur und des Denkens“

Der Publizist Michael Girke legte anschaulich dar, dass mit der Renaissance (etwa 1420 – 1600) ein neues Zeitalter begann, in dem sich, angeregt durch die Wiederentdeckung antiken Wissens eine neue Sicht auf den Menschen als Individuum und die Welt entwickelte.

An Gemälden Jan van Eyks (ca. 1390 – 1441) führte er eindrücklich vor Augen, wie der Maler die im Mittelalter üblichen Darstellungen hinter sich ließ. Statt typisierter Figuren aus der Heilsgeschichte malte er nach dem Leben. Seine Porträts beruhen auf wahrheitsgetreuer Beobachtung und zeigen reale Personen, deren Aussehen nicht beschönigt ist. Das Individuum steht im Fokus. Nach Jakob Burckhardt, dem von Girke neben Erwin Panofsky mehrfach zitierten Kulturhistoriker, bildete sich in der Renaissance das moderne Individuum heraus. Anders gesagt, damals entstand unser heutiges Selbstverständnis vom Menschen.

In der Renaissance liegen auch Wurzeln der modernen Naturwissenschaften. Neben das christlich dominierte Wissen des Mittelalters trat das in Vergessenheit geratene, aber in Büchern bewahrte Wissen der Antike über Techniken, Astronomie und Erscheinungen der Natur. Es stammt aus verschiedenen Kulturen, der griechischen, arabischen, persischen und auch fernöstlichen.

Tausend Jahre nach dem Untergang des römischen Reiches wurde das Wissen der Antike in den mächtigen italienischen Stadtstaaten, allen voran Florenz, wiederentdeckt. Überlebt hatte es vor allem in Klosterbibliotheken und in Byzanz, dem oströmischen Reich. Als dieses von den Osmanen erobert wurde, flohen viele Wissenschaftler von dort nach Italien und trugen zur Entfaltung der Renaissance bei.

Eine allgemeine Bildungsbegeisterung kennzeichnet die Renaissance. Girke drückte es so aus: „Gebildet sein war Mode“. Die neue Philosophie der Zeit war der Humanismus. Seine Maxime: Der Mensch soll frei werden durch Bildung. Der Effekt: Umfassende Bildung eröffnet viele Perspektiven und übt im Umgang mit Vielfalt. Der Mensch muss immer wieder entscheiden, was gilt und was nicht. Durch Vernunft, durch das Denken wird der Mensch zur Wahrheit geführt. Die Welt des Wissens und die Welt des Glaubens drifteten auseinander. Ihre widerspruchsfreie Verbindung gelang kaum mehr, was nicht heißt, dass antikes Wissen nicht auch von der Kirche geschätzt und in ihrem Sinne angewendet wurde, z.B. im Kirchenbau.

Die Renaissance wurde nicht zuletzt durch die Erfindung des Buchdrucks und die damalige Weltsprache Latein ermöglicht. Arabische, griechische, persische Bücher werden ins Lateinische übersetzt. In Latein wurde das wiederentdeckte Wissen über nationale Grenzen hinweg diskutiert und durch die Diskussion weiterentwickelt. Diese Form wissenschaftlichen Diskurses, der Neues hervorbringt, bringt der Linguist Jost Trier in seiner Bezeichnung „Wiederwuchs“, durch die er „Renaissance“ ersetzen wollte, auf den Begriff. Zu der Wortschöpfung inspirierte ihn die Forstwirtschaft. So wie aus beschnittenen, aber noch kraftvollen Bäumen neue Triebe wachsen, so wurzelt die neue Weltsicht der Renaissance in dem alten antiken Wissen.

Von Italien aus breitete sich die Renaissance in den Norden Europas aus. Dass auch Herforder sich in die gelehrten Gespräche einmischten und die Renaissance noch heute sichtbare Spuren in Herford hinterlassen hat, zeigte Museumsleiterin Sonja Langkafel am Schluss des Vortragsteils auf. Sie verwies auf die von Hermann Dwerg testamentarisch verfügte Einrichtung des Studentenkollegs und auf die Humanisten, die als Lehrkräfte an der Herforder Lateinschule und dem in der Reformation gegründeten Gymnasium (heute Friedrichsgymnasium) wirkten sowie auf die renaissancezeitliche Architektur am Neuen Markt und das abgebrochene Altstädter Rathaus.

Zum Weiterlesen:

Jacob Burckhardt: Die Kultur der Renaissance in Italien.

Ein Versuch, Stuttgart (Kröner Verlag) 2009 oder (Reclam) 2014 oder als kostenloses Digitalisat

Erwin Panofsky: Die Renaissancen der europäischen Kunst, Frankfurt 1990

Bernd Roeck, Der Morgen der Welt. Geschichte der Renaissance, München (C.H.Beck) 2017

Der Ausschnitt aus dem Aquarell von J.G. Müller zeigt das Altstädter Rathaus. Um 1590 wurde die Gerichtslaube im Stil der Hochrenaissance angebaut.

Das Haus mit reichgeschmücktem Renaissance-Ziergiebel wurde 1560 von dem Baumeister Johann von Brachum für den Herforder Ratsherrn und Kaufmann Jobst erbaut.

28. Januar 2021: Der Nutzen und die Last der Freiheit

Dozent Michael Girke stellte in seiner Einführung sowohl aktuelle Positionen von Künstlern und Philosophen als auch die Genese unseres heutigen Begriffs von Freiheit vor.

Dass diese Freiheit nicht absolut ist, sondern sowohl durch physische Gesetze als auch durch familiäre, kulturelle und politische Übereinkünfte begrenzt wird, schränkt die Freiheit aus philosophischer Sicht nicht ein. Hier wird Freiheit gemeinhin seit Immanuel Kant als Freiheit von Zwang definiert, dass also Menschen sich frei entscheiden können, wobei ihr Wissen als Handlungs- und Entscheidungsgrundlage dient.

Diese Freiheit entsteht folglich im gemeinsamen Agieren. Der Philosoph Ottfried Höffe beispielsweise sieht Freiheit als Verhandlungssache in einer Gesellschaft an, die immer wieder neu festgelegt und in spezifischen Situationen neu verhandelt werden muss. Alexander Kluge begreift Freiheit als individuellen und kollektiven Lernprozess. In aktuellen philosophischen Positionen wird deutlich, dass dies ein erhebliches Maß an Toleranz im Umgang miteinander und mit unterschiedlichen Haltungen und Einschätzungen erforderlich macht.

Fast ebenso lang wie der Vortrag geriet dann auch die von Michael Girke und Museumsleiterin Sonja Langkafel moderierte Diskussion um die Freiheit des Einzelnen und ihre Grenzen, die sich vor allem an der aktuellen pandemischen Situation aufhängte. In der Diskussion wurde deutlich, dass die beteiligten Gäste die pandemiebedingten Einschränkungen zum großen Teil als notwendige Belastung ansahen, die vielleicht bei einer basisdemokratischen Entscheidung tatsächlich gar nicht so weit abweichen würden.

In vielen Stellungnahmen aber wurde auch deutlich, dass die Teilnehmerinnen und Teilnehmer durchaus besorgt darauf schauten, dass die Maßnahmen nicht von allen gleichermaßen mitgetragen werden. Und auch, dass die vielfach sichtbare Unzufriedenheit, die sich in Ablehnung der Maßnahmen ausdrückt, sowohl die Bekämpfung der Pandemie, vor allem aber auch den Umgang miteinander auf Dauer schwieriger machen könnte.

 

Die Freiheit führt das Volk, Eugène Delacroix, 1830 Quelle: Wikipedia, Gemeinfrei